Jüngst lud der Wissenschaftsjournalist Gert Scobel anlässlich der neuen Konsolengeneration Daniel „Budi“ Budiman von Rocket Beans TV als Gesprächspartner in seine Philosophie-Sendung auf YouTube. Zum Thema „PS5 & XBOX – Flucht in digitale Welten?“ unterhalten sich die beiden unter anderem über die Wahrnehmung in Spielen. Dabei nehmen sie scheinbar gegensätzliche Positionen ein. Scobel sorgt sich um die Vereinnahmung durch virtuelle Welten, während Budi betont, dass Spielen ja auch ein bewusster Prozess ist – bis hin zum Abschalten der Konsole. Der Witz ist: Beide Positionen lassen sich im Prinzip auf eine klassische Denktradition zurückführen, die uns eher davon abhält, zu verstehen, wie unsere Wahrnehmung in Spielen funktioniert. Denn bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass vielmehr das Changieren zwischen der Vereinnahmung des Bewusstseins und der Rückgriff auf selbiges die spezifische Ästhetik von Spielen erlebbar macht. Doch der Reihe nach.
Platons Höhlengleichnis: Typische Sichtweisen auf digitale Spiele
Scobel vergleicht digitale Spiele mit Meditation und möchte von Budi wissen, ob darin nicht auch eine Gefahr besteht. Schließlich können Spiele durch vollständige Immersion das Bewusstsein in eine andere Welt verschwinden lassen. Als Folge könnten die Reize der realen Welt langweilig werden. Budi kontert, dass die reale Welt durch den Eskapismus digitaler Spiele natürlich nicht langweilig wird. Hier bringt er Platons berühmtes Höhlengleichnis in das Gespräch und benutzt es als Metapher für die Situation unseres Bewusstseins im digitalen Spiel.
„Das Ziel von beiden – Meditation und Spiel – könnte sein: Nicht das Selbst zu finden, sondern das Selbst loszuwerden.“
Gert Scobel
In Platons Höhle sitzen gefesselte Menschen vor einer Höhlenwand. Das Einzige, was sie zu Gesicht bekommen, sind vorbeiziehende Schatten von Gegenständen, die durch ein Feuer irgendwo hinter ihnen an die Höhlenwand geworfen werden. Die Menschen in der Höhle kennen weder die Gegenstände, die die Schatten werfen, noch haben Sie eine Ahnung von der Welt außerhalb der Höhle. Ihre sinnlich wahrnehmbare Welt besteht ausschließlich aus den Schatten an der Wand. Einer der Menschen wird schließlich freigelassen und dazu gezwungen, die Höhle zu verlassen. Schmerzhaft nimmt sie oder er erst die realen Gegenstände und schließlich das gleißende Licht der Sonne außerhalb der Höhle wahr. Nachdem sich die Augen an alles gewöhnt haben, tritt eine Bewusstseinserweiterung um die wahre Beschaffenheit der Welt ein.1
Digitale Spiele, so Budi, sind Abbilder der Realität, wie die Schatten im Höhlengleichnis. Doch anders als die Menschen in Platons Höhle sind wir uns ja bewusst, dass es sich um Abbilder handelt – um stark formalisierte, regelbasierte Abbilder. Deshalb behalten wir die Kontrolle und können jederzeit die Höhle verlassen, wenn wir wollen. Man muss uns dazu nicht zwingen. Somit laufen wir auch nicht Gefahr, uns gänzlich im Spiel zu verlieren.
„Wir sind sowohl die Höhle als auch diejenigen, die die Schatten werfen: Wir kontrollieren es [das Spiel].“
Daniel Budiman
Beim Gespräch zwischen Scobel und Budi treffen typische Sichtweisen auf digitale Spiele aufeinander. Typisch deshalb, weil hieran eine tief im abendländischen Denken verwurzelte Tradition hängt, die bis auf die antike Philosophie zurückreicht. Tatsächlich lässt sich Platons Höhlengleichnis und der damit verbundene platonische Dualismus als eine Quelle für diese Denktradition ausmachen: Die Aufteilung in die Welt des Wahrnehmbaren und die Welt des Denkbaren – dem Schein und dem Sein – wobei dem Denkbaren eine Vormachtstellung gegenüber dem Wahrnehmbaren eingeräumt wird. Denn nur dem Denkbaren, also dem Reich außerhalb der Höhle, wird die Möglichkeit einzig wahrer Erkenntnis zugesprochen. Das bloß Wahrnehmbare, also die Schattenbilder auf der Höhlenwand, wird dem Denkbaren untergeordnet.2
Ästhetik digitaler Spiele: Programmierte Software oder interaktive Geschichten?
In der Art und Weise, wie wir über ästhetische Gegenstände sprechen – zu denen digitale Spiele genauso zählen wie etwa Romane, Spielfilme oder Theateraufführungen – sieht der Philosoph Martin Seel ebenfalls eine Spaltung, die sich aus dem platonischen Dualismus ergibt: Bei der Ästhetik des Scheins geht es darum, ästhetische Gegenstände als Konstrukte oder Simulationen zu begreifen. Bei der Ästhetik des Seins hingegen geht es darum, an ästhetischen Gegenständen Wirklichkeitsbezüge kenntlich zu machen und ihre Bedeutung zu interpretieren.3
Überträgt man diese Einteilung der Ästhetik auf digitale Spiele, lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Auf der ersten prozeduralen Ebene sind Spiele programmierte Software. Im Fokus stehen hier die Regelsysteme, die technischen Mittel und Prozesse, mit denen Spiele ihre Reiz-Reaktions-Schemata aufbauen. In diesem Sinne sind Spiele immer etwas Künstliches und der Außenwelt nur in sehr eingeschränkter Weise Nachempfundenes (Ästhetik des Scheins). Auf der zweiten literarischen Ebene sind Spiele immersive und interaktive audiovisuelle Geschichten oder ganze Welten. Hier lassen sich Wirklichkeitsbezüge oder Referenzen auf andere Geschichten ausmachen. Die Künstlichkeit tritt gegenüber der im Spiel dargestellten Handlung oder Situation in den Hintergrund. Das Spielen eines Spiels ist dann ähnlich oder gleichbedeutend mit dem Lesen eines Buches, oder dem Sehen eines Films (Ästhetik des Seins).
Seltener wird darüber gesprochen, wie wir das Wahrnehmbare digitaler Spiele wirklich erleben.
Wenn über digitale Spiele gesprochen wird, dann oft innerhalb dieser dichotomen Logik. Im Fokus steht dann entweder die Prozeduralität oder die Literarität digitaler Spiele.4 Und mit Blick auf diese beiden Dimensionen wird häufig das Denkbare gegenüber dem Wahrnehmbaren hervorgehoben. So geht es dann eher darum, was die prozeduralen oder literarischen Aspekte in Spielen jeweils für uns als Spielende bedeuten. Man spricht zum Beispiel über die Möglichkeiten und Einschränkungen durch das Regelsystem. Oder man spricht etwa über die Ausgestaltung und die erzählerische Tiefe der Spielwelt. Seltener wird darüber gesprochen, wie wir das Wahrnehmbare der beiden Ebenen von digitalen Spielen – also die sinnlich erfassbaren prozeduralen als auch literarischen Elemente – wirklich erleben. Wie wir digitale Spiele erleben, hängt ganz entscheidend von unserer Wahrnehmung während des Spielprozesses ab.
Ästhetische Wahrnehmung: Spiele in ihrer Gegenwärtigkeit erleben
Die Wahrnehmung ästhetischer Gegenstände unterscheidet sich nach Seel von unserer allgemeinen Wahrnehmung, weshalb er hierfür den Begriff der ästhetischen Wahrnehmung verwendet. Denn ästhetische Wahrnehmung kann nur entstehen, wenn man sich auf die Phänomene und Situationen einlässt, die sich durch ästhetische Gegenstände ereignen – und zwar immer genau im Moment ihres Erscheinens. In diesem Sinne versteht Seel ästhetische Wahrnehmung als eine Hinwendung zur Gegenwärtigkeit von etwas Gegenwärtigem.5 Für den Romanist und Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht ist ästhetische Wahrnehmung immer auch ästhetisches Erleben. Wenn wir uns auf ästhetische Gegenstände einlassen, dann erleben wir sie in ihrer Gegenwärtigkeit. Gumbrecht betont hierbei, dass ästhetische Wahrnehmung eine Zwischenposition einnimmt zwischen der distanzierten Verstandestätigkeit und der unmittelbar sinnlichen Empfindung.6
Zumeist bewegt sich unsere Wahrnehmung während des Spielens zwischen den beiden Polen aus bewusster Reflexion und völliger Selbstvergessenheit.
Durch ästhetische Wahrnehmung erleben wir das Wahrnehmbare digitaler Spiele also immer dann, wenn wir zwischen diesen zwei Polen changieren. Weder sind wir uns der Abbildhaftigkeit digitaler Spiele während des Spielens konsequent bewusst, wie Budi mit seinem Verweis auf das Höhlengleichnis sagt. Noch gehen wir dauerhaft im Spiel auf und verlieren dabei völlig unser Selbst, wie Scobel vermutet. Beides sind nur mögliche Extreme – die zwei Enden auf einer Skala. Zumeist bewegt sich unsere Wahrnehmung in Spielen aber zwischen diesen beiden Polen, zwischen bewusster Reflexion und völliger Selbstvergessenheit.
Wir erleben den Spielprozess im Grunde als ein ständiges Wechselspiel aus Distanz und Nähe. Gutes Gamedesign zeichnet sich in dieser Hinsicht vor allem dadurch aus, dass es das Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe aufrecht erhält. Um das spielerische Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe zu beschreiben, führt die Medienwissenschaftlerin Britta Neitzel den Begriff der Involvierung ein – als Abgrenzung zu den oft verwendeten Begriffen Immersion und Interaktivität.7 Involvierende Spiele tragen der Ambivalenz ästhetischer Wahrnehmung Rechnung. Denn das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden, bedarf eines Bewusstseins von dieser Welt.
Erfolgreiches Problemlösen: Für die Balance bei der Wahrnehmung in Spielen
Wie gut es einem digitalen Spiel gelingt, Spielende zu involvieren, hängt damit zusammen, dass es sich beim Spielprozess um einen Prozess der Problemlösung handelt. Diesen Gedanken hat die Medientheoretikerin Kristine Jørgensen für ihre Beschreibung von der Handlungsmacht in Spielen fruchtbar gemacht. 8 Und er ist sehr einleuchtend. Denn Spiele konfrontieren uns ja mit einer ganzen Reihe an Problemen: Hindernisse müssen überwunden, Rätsel gelöst, Aufgaben bewältigt und Gegner besiegt werden. Bei jedem Problem gehen wir zunächst auf Distanz, indem wir die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten reflektieren, die uns das Regelsystem und das Interface bieten. Anschließend übersetzen wir unsere theoretischen Überlegungen in konkrete Aktionen im Spiel. Am Ende steht entweder die beabsichtigte oder auch unbeabsichtigte Lösung, die zur Progression im Spielverlauf beiträgt. Oder wir scheitern und müssen den Problemlösungsprozess neu ausrichten, indem wir weitere Hypothesen bilden und anwenden.
Die Nähe zum Spiel steigt immer dann, je besser und schneller man die Probleme löst, die das Spiel bereit hält. Dies hängt für Gordon Calleja – der Spiele nicht nur erforscht, sondern selbst auch entwickelt – vor allem von der Bewegungsmöglichkeit innerhalb der Spielumgebung ab. 9 Je problemloser sich Spielende im virtuellen Raum bewegen können, desto stärker etabliert sich eine Nähe zum Spiel. Diese Nähe zeichnet sich durch eine doppelte Auflösung der körperlichen Wahrnehmung aus: Sowohl der physische Körper am Eingabegerät als auch der Datenkörper und seine Bewegung innerhalb der Spielwelt entziehen sich bei fortschreitender Nähe unserer Wahrnehmung in Spielen. Die Aktivitäten im Spiel selbst, also etwa das Überwinden eines Hindernisses oder das Besiegen eines Gegners, bilden dann den Fokus unserer Wahrnehmung.
Auf der anderen Seite sorgen Probleme beim Vorankommen dafür, dass Datenkörper und physischer Körper stärker in unsere Wahrnehmung rücken. Im Extremfall empfinden wir die Bewegung im Spiel dann als ungenügend und werden auf unsere eigenen physischen Steuereingaben am Controller zurückgeworfen. Alle, die schon einmal vor Wut einen Controller weggeschmissen haben, wissen, wie es sich anfühlen kann, wenn uns ein Spiel zu maximaler Distanz nötigt. Ist ein Hindernis zu schwer oder scheitert man immer wieder an demselben Gegner, dann nimmt man stärker die durch die Spielregeln festgelegten Grenzen wahr.
Der Sweetspot für einen guten Spielablauf liegt genau in der Mitte
Ein erfolgreicher Problemlösungsprozess ist also entscheidend für die Balance zwischen Distanz und Nähe. Wenn ein Spiel beide Wahrnehmungsformen während seine Verlaufs ausgeglichen adressiert, kann es seine spezifische Ästhetik entfalten. Spielende haben dann die Möglichkeit seine prozeduralen und literarischen Elemente in ihrer Gegenwärtigkeit zu erleben. Hierin liegt eine Schlüsselfunktion für gutes Game Design – und dementsprechend auch die hohe Kunst. Denn für einen flüssigen Spielablauf müssen viele Faktoren berücksichtig werden, wie etwa die unterschiedlichen Erfahrungsstufen von Spielenden oder das Besserwerden durch Übung im Spiel. Der Sweetspot für einen guten Spielablauf und damit die Grundbedingung ästhetischer Wahrnehmung liegt genau in der Mitte: Je ausgeglichener digitale Spiele ihren Problemlösungsprozess gestalten, desto besser können sie uns in ihre Abläufe involvieren – ohne, dass wir gänzlich die Außenwelt ausblenden oder Spiele nur als ein Set von Regeln wahrnehmen.
Fußnoten:
- Platon lässt das Höhlengleichnis am Beginn des siebten Buches seiner Politea von seinem Lehrer Sokrates als Dialogfigur erzählen. Siehe zum Beispiel die Übersetzung von Wiegand, Wilhelm (1855) aus Platon’s Werke. Zehn Bücher vom Staate. Stuttgart.
- vgl. Kiening 2007, 25 ff.; Nicht also vermöge der körperlichen Sinne gelangt man Platon zufolge zur höheren Erkenntnis, sondern einzig über das, was sich nicht mit den Sinnen erfassen lässt. „Wahrnehmungsreduzierte Sinnlichkeit erweist sich als topologische Ferne von der Einsicht in fundierte Ursprünge und höhere Prinzipien“ (ebd., 27).
- vgl. Seel 2007, 11 f.; „Seit ihren platonischen Anfängen wird die philosophische Ästhetik von einer Alternative umgetrieben, die ebenso aufschlussreich wie irreführend ist. Der ästhetischen Wahrnehmung wurde das Vermögen zugeschrieben, entweder einen besonderen Zugang zum Sein oder aber eine besondere Sphäre des Scheins zu eröffnen. In der ersten Denkfigur wird die ästhetische Wahrnehmung als eine Begegnung damit gesehen, wie die Dinge in Wahrheit liegen – als ein Durchbrechen scheinhafter Lebensverhältnisse. In der zweiten Denkfigur hingegen erscheint sie umgekehrt als eine Abwendung von der Stabilität der verlässlichen Welt – und damit als ein Durchbrechen der Macht des Wirklichen“ (ebd., 11).
- Prozeduralität und Literarität bilden auch jeweils Schwerpunkte bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen. Die transdisziplinäre Forschungsrichtung der Ludologie betont die regelgeleitete Simulation als Kernkonzept, während die Narratologie erzählende Elemente in Spielen untersucht. Eine neue Denkrichtung innerhalb der Game Studies im deutschsprachigen Raum bricht bewusst aus diesem Schema aus, indem es ihren Fokus auf das intensive ästhetische Verhältnis von Spielenden und Spiel legt. Siehe hierzu die Einleitung von Christian Huberts und Sebastian Standke (2014) für ihren Sammelband Zwischen|Welten: Atmosphären im Computerspiel.
- vgl. Seel 2007, 13 ff.
- vgl. Gumbrecht 2004, 120 ff.
- vgl. Neitzel 2012, 75 ff.
- vgl. Jørgensen 2003, 4 f.
- vgl. Calleja 2011, 167 ff.; “Players must be capable of movement, the ability to navigate space, in order to be involved with, and later internalize, the spatial dimensions of the game environment” (ebd., 170).
Literatur:
- Calleja, Gordon (2011): In-Game. From Immersion to Incorporation. Cambridge, Massachusetts/London: The MIT Press
- Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag
- Jørgensen, Kristine (2003): Problem Solving: The Essence of Player Action in Computer Games. In: Level Up Conference Proceedings. Utrecht: University of Utrecht
- Kiening, Christian (2007): Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte. In: Kiening, Christian (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich: Chronos Verlag, S. 9-70
- Neitzel, Britta (2012): Involvierungsstrategien des Computerspiels. In: GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels zur Einführung. Junius Verlag, S. 75-103
- Seel, Martin (2007): Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag
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