Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus

Fliegen, schießen, ausweichen, zerstören, einsammeln und den aktuellen Highscore knacken – das Genre Shoot ’em up (kurz: SHMUP) findet im gegenwärtigen Gaming-Mainstream praktisch keinen Platz mehr. Doch bis heute füllt es eine relativ stabile Nische am Markt, die durch eine Szene von Enthusiast:innen weiterlebt. Besondere Popularität genießt eine von japanischen Studios seit den frühen 90er Jahren vorangetriebene Weiterentwicklung des klassischen 2D-SHMUPs hin zum Subgenre Danmaku. ‚Danmaku‘ lässt sich übersetzen mit ‚Sperrfeuer‘ oder ‚Kugelhagel‘. Im Englischen trägt es daher auch die Bezeichnung Bullet Hell.

Im Danmaku feuern Gegner hunderte von Projektilen ab, die dann zumeist visuell beeindruckende geometrische Muster bilden. Die Herausforderung besteht darin, den eigenen Flugkörper unbeschadet durch diese Geflechte aus feindlichem Kugelfeuer zu manövrieren. Das Danmaku zeichnet sich im Unterschied zum klassischen SHMUP also durch einen noch viel intensiveren Fokus auf Optik und Bewegung aus. Dabei entfaltet es eine ganz spezifische Ästhetik – eine Kinästhetik – die es in die Nähe von optisch-kinetischer Kunst rückt. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, was dieses Alleinstellungsmerkmal des Genres für seine ästhetische Wahrnehmung bedeutet und in welchen Aspekten sich dadurch das Bullet Hell als Kunst begreifen lässt – und damit zugleich in Worte fassen, was auch heute noch einen Teil der Faszination dieser Spiele ausmacht.

Überschaubare Veröffentlichungen: Die bekanntesten Bullet Hell SHMUPs

Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus
In Batsugun von 1993 tauchen bereits einfache geometrische Muster aus Geschossen auf. (Bildquelle: hardcoregaming101.net)

Das erste SHMUP, an dem sich der Ursprung des Danmakus festmachen lässt, ist das 1993 veröffentlichte Batsugun vom japanischen Studio Toaplan. Batsugun führt bereits die beiden Grundelemente ein, mit denen sich das Danmaku vom klassischen SHMUP absetzt: Zum einen füllen passagenweise hunderte Projektile gleichzeitig den Bildschirm und bilden dabei geometrische Muster. Zum anderen besteht die Hitbox – ein unsichtbarer Bereich innerhalb der eigenen Spielkörper-Grafik für Kollisions- und Trefferabfragen – aus nur wenigen Pixeln. Dadurch ist das Manövrieren des steuerbaren Kampfjets durch das massive Kugelfeuer überhaupt erst möglich.

Heute sorgen Portierungen älterer SHMUPs auf neue Systeme und von unabhängigen Studios entwickelte Neuerscheinungen für einen regelmäßigen aber auch überschaubaren Fluss an Spielen. Besonders gefragt sind die ursprünglichen für Automaten entwickelten Danmakus des aus Toaplan hervorgegangen Studios Cave (ein Akronym für „Computer Art Visual Entertainment“), da diese das Genre in vielen Punkten entscheidend geprägt haben. Zu den bekanntesten Entwicklungen von Cave gehört die DoDonPachi-Serie (der erste Teil noch DonPachi genannt) sowie die beiden Mushihimesama-Teile. Daneben haben noch eine Reihe weiterer markanter Spiele jeweils unterschiedlicher Entwickler zur Herausbildung des Subgenres beigetragen.1 Als Meilenstein gilt das Danmaku Ikaruga des japanischen Studios Treasure, da es das Genre mit einer visuell ansprechenden Präsentation und innovativen Gameplay-Mechanik auch im Westen populär machte – und daher bis heute auf gängigen Plattformen immer wieder neue Veröffentlichungen erhält.

Zu den bekanntesten Independent-Entwicklungen aus Japan, auch Doujin Games genannt, zählen die Spiele aus der Touhou Project-Reihe des Einzelentwicklers Jun’ya ‚ZUN‘ Ōta von Team Shanghai Alice. Ōta entwickelt bereits seit 1995 bis heute Danmakus für PCs. Auch unabhängige Entwickler außerhalb Japans haben in den vergangenen Jahren diverse Bullet Hell SHMUPs auf unterschiedlichen Plattformen und Systemen veröffentlicht, unverkennbar inspiriert durch die populärsten Vertreter des Genres. Dazu zählen etwa Ghost Blade HD vom deutschen Studio Hucast Games oder die Danmaku Unlimited-Reihe vom kanadischen Einzelentwickler Doragon Entertainment.

Kinetik als zentrales Gestaltungsprinzip

Die meisten für Spielhallen entwickelten SHMUPs, aber auch viele zeitgenössische Neuentwicklungen, zählen zu den Vertikalscrollern. Vertikal scrollende 2D-Spiele stellen das Spielgeschehen im Hochformat dar. In den Automaten sind die Bildschirme daher vertikal ausgerichtet. Auf Konsolen oder dem PC zeigen Spiele das Bild verkleinert und zentriert im Querformat an, bieten jedoch oft auch die Option für eine Darstellung, die das Bild auf die Seite kippt. Diese optionale Darstellungsweise trägt die Bezeichnung TATE Mode, was sich vom japanischen Wort für ‘vertikal’ ableitet. Durch die vertikale Darstellung des Geschehens erhält man eine bessere Übersicht über die einzelnen Elemente im Spiel, die sich meistens in unterschiedlichen Bahnen von oben nach unten bewegen. So kann man herannahende Gegner und Geschosse frühzeitig erkennen und reagieren.2

Alle Elemente im Spiel verfügen über ein bestimmtes Repertoire an kinetischem Verhalten, durch das sie sich deutlich voneinander unterscheiden lassen.

Um die Bewegung in aktionsorientierten Spielen mit zweidimensionaler Abbildung zu untersuchen, greift der Medienkünstler und -theoretiker Leif Rumbke auf einen Teilbereich der Bewegungslehre der Physik zurück: die Kinetik. Die Kinetik fragt nach den Ursachen für Bewegung. Im klassischen 2D-Spiel geht die Bewegung immer auf einen zielgerichteten Designvorgang oder auf Steuerungseingaben zurück.3 Das SHMUP und insbesondere das Danmaku nutzt nach Rumbke wie kein anderes Genre die Kinetik als zentrales Gestaltungsprinzip.

“Während dem Genre des Jump’n’Run in seiner Fortentwicklung vor allem illustrative und dramaturgische Elemente hinzugefügt wurden, hat das 2D-Shoot’em Up die Kinetik und damit die Schleife von Interpretation, Extrapolation und Projektion in fortlaufender Steigerung schließlich zum praktisch alleinigen Spielprinzip erhoben. Das Danmaku (die japanische und späte Form dieses Genres) hat die Gestaltungsmöglichkeiten in diesem Bereich in einer Konsequenz weiter fortentwickelt, als jedes andere Genre. Hier wird die Ikonographie des Spiels zumeist von einer kaum fassbaren Zahl an Schüssen verdeckt und somit nahezu vollständig in den Hintergrund gedrängt.”4

Leif Rumbke: Run, Shoot, Catch. Kinetik im Computerspiel.

Die sich bewegenden Elemente im Spiel lassen sich auch als kinetische Konfigurationen beschreiben, die in Relation zueinander und zum steuerbaren Spielkörper stehen – und damit auch zu Problemsituationen für die Spieler:innen führen können. Ein feindliches Raumschiff und seine Projektile sind kinetische Elemente, auf die man reagieren sollte, nachdem man deren kinetisches Verhalten, wie etwa ihre Bewegungsbahn und ihren Geschwindigkeitsverlauf, abgeschätzt und als gefährlich eingestuft hat. Alle Elemente im Spiel, einschließlich des eigenen Spielkörpers, verfügen über ein bestimmtes Repertoire an kinetischem Verhalten – über eine kinetische Capacity – durch das sie sich deutlich voneinander unterscheiden lassen.5

Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus
Ein Boss in DoDonPachi Resurrection,
der zwei Typen von Projektilsystemen generiert. (Bildquelle: hardcoregaming101.net)

So tauchen Gegner in den meisten SHMUPs eher in Gruppen auf und bilden Formationen mit je eigenen Bewegungsmustern. ‘Bosse’, also besonders große Gegner, die am Ende eines Levels erscheinen, sind oft als kinetisches System realisiert, das mehrere Einheiten unterschiedlicher kinetischer Konfigurationen enthält. Im Danmaku sind es vor allem Bosse, die hunderte von Projektilen unterschiedlicher Typen abfeuern, welche sich zu geometrischen Mustern gruppieren. Diese Projektilmuster bilden selbst kinetische Systeme, die Einfluss auf die kinetische Capacity des spielbaren Flugkörpers ausüben. Ihre kinetischen Konfigurationen zeichnen sich durch ein rhythmisches Bewegungsschema aus, aus dem fortlaufend ‘places to be’ und ‘places to avoid’ entstehen, was hohe Anforderungen an die Extrapolation der Spieler:innen stellt.6

Das Bewegungsbild und seine zeitlichen Wahrnehmungsformen

Die sich bewegenden Projektilsysteme der Danmakus bilden eine Art sichtbares ‚Minenfeld‘. Ihre geometrischen Formen übersetzen die Ausweichbewegungen, die man mit dem steuerbaren Flugkörper vollzieht, in einen feinen Rhythmus, der über die Bedienung des Controllers in das Bewegungsschema des eigenen Körpers übergeht. Durch eine solche sensomotorische Synchronisierung zwischen dem eigenen Körper und den Geschehnissen im Spiel entsteht eine komplementäre Bewegung von Körper und Bild, eine „enge Kopplung von Körper-in-Bewegung und Bewegung im Bild“.7

Für den Medientheoretiker Serjoscha Wiemer ermöglichen vor allem die Rhythmen aktionsorientierter Spiele eine bestimmte Form von ästhetischer Wahrnehmung, die durch Bewegung und Zeitlichkeit bestimmt ist. Um diese Wahrnehmung zu beschreiben, greift er unter anderem auf die Bild-Konzepte des französischen Philosophen Gilles Deleuze zurück, die dieser für die Analyse von Filmen in seiner Kino-Theorie entwirft.8 Deleuze wiederum interpretiert für den Entwurf seiner Konzepte die Beschreibung des Wahrnehmungsvorganges aus dem Werk Materie und Gedächtnis des Philosophen Henri Bergson von 1896.9

Die Rhythmen aktionsorientierter Spiele ermöglichen eine bestimmte Form von ästhetischer Wahrnehmung, die durch Bewegung und Zeitlichkeit bestimmt ist.

Für Bergson ist die Wahrnehmung von Bildern kein optischer, sondern ein zeitlicher Vorgang. Unser Gedächtnis verdichtet die empfangenen Lichtwellen, die auf den Sehnerv treffen, erst über eine bestimmte Dauer zu einer zusammenhängenden Wahrnehmung. Ohne diese Syntheseleistung wären die einzelnen Lichtwellen “nicht mehr als ein bloß chaotisches Stakkato auf die Sehnerven einprasselnder Erregungen”.10 Demzufolge erkennen wir optische Phänomene also nicht durch den einzelnen Reiz – und auch nicht durch die nachgelagerte Interpretation mehrerer Reize – sondern immer über den zeitlichen Vollzug der Wahrnehmung, über ihre je eigene Dauer.

In dieser Hinsicht versteht Deleuze ein Bewegungsbild nicht etwa als eine optische Darstellung. Stattdessen setzt es sich aus „Lichtlinien oder Lichtfiguren“11 zusammen, die sich in ständiger Bewegung befinden und währenddessen aufeinander wirken und reagieren. Dabei kommt es mitunter zu einem Abstand zwischen der Aktion und der Reaktion eines Bewegungsbildes – zu einem zeitlichen Intervall, das über eine gewisse Dauer verschiedene Wahrnehmungsformen ermöglicht, für die Deleuze die Begriffe Wahrnehmungsbild, Aktionsbild und Affektbild aufgreift.12

Diese zeitlichen Wahrnehmungsformen bestimmen, wie die von unserem Gedächtnis verdichteten Bewegungen der Bilder auf uns wirken. Vereinfacht gesagt, beschreibt das Wahrnehmungsbild die subjektive Wahrnehmung, also auch das Erkennen und Einordnen der uns durch die Bilder vermittelten optischen Phänomene. Das Aktionsbild beschreibt die Wahrnehmung möglicher und konkreter Aktionen und Reaktionen auf und von Bildern. Das Affektbild schließlich beschreibt die spontane Selbstwahrnehmung, die “das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen“.13 Bevor man auf die empfangene Bewegung eines Bildes reagieren kann, nimmt man sich über das Affektbild schlagartig selbst wahr oder empfindet sich vielmehr ‚von innen‘.14

Temporaler Gleichklang & synästhetischer Rausch

Was Deleuze in Zusammenhang mit dem Sehvorgang des Films bringt, lässt sich für Wiemer auch auf den Computer und seine digitale Bildproduktion übertragen. Ähnlich wie unser Gedächtnis, verdichtet die Digitaltechnologie die elektronischen Signale zu Bildern.

“Für die Videoapparatur ist Zeit der Rohstoff, der moduliert und synthetisiert wird, um zeitliche Prozesse in Wahrnehmungsprozesse zu transformieren. Es ist nicht allein der Rezipient, der die Wahrnehmungsprozesse vollzieht, sondern die Videoapparatur selbst leistet Synthesen und Kontraktionen der Zeit. […] Das heißt nichts anderes, als dass diese Art von Bildtechnologie im Kern als eine Wahrnehmungstechnologie verfasst ist. Bilder existieren als […] zeitlich auf die Wahrnehmung abgestimmte Signalflüsse.”15

Serjoscha Wiemer: Videospiele als Zeitkristallisationsmaschinen. Aspekte einer temporalen Bildtheorie.

Die Wahrnehmung beim Spielen digitaler Spiele erfolgt also “unter den Bedingungen einer Ko-Produktion maschinischer und menschlicher Synthesen”.16 Vor allem für aktionsorientierte Spiele wie SHMUPs und Danmakus, die das Spielgeschehen in ‘Echtzeit’ inszenieren, gilt das Prinzip einer ständigen Rückkopplung von Aktion und Reaktion durch die Spieler:innen und die Bildbewegungen des Spiels. Aktion und Reaktion, Körper-in-Bewegung und Bewegung-im-Bild erfolgen unmittelbar aufeinander, was eine hybride Form von Wahrnehmung zur Folge hat – eine hybride Subjektivität aus Mensch und Maschine, Spieler:in und Spiel, Körper und Bild. Im Unterschied zu weniger aktionsorientierten Spielen, wie etwa rundenbasierten Strategie- oder Puzzlespielen, nimmt man den Spielablauf in Echtzeit-Spielen daher weniger als kausale Abfolge wahr.

Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus
Massiver Beschuss durch kreis- und spiralenförmige Projektilsysteme in Danmaku Unlimited 3. (Bildquelle: doragongames.com)

Doch wer mal ein Danmaku gespielt hat, weiß, wie schwierig es ist, auf den massiven Beschuss zu reagieren. Zunächst ist die Spielerfahrung also vor allem durch das Einüben der durch die kinetischen Projektilsysteme vorgegeben Rhythmen charakterisiert. Das Aktionsbild rückt dann gegenüber dem Wahrnehmungsbild ins Zentrum und man erlebt die Spielerfahrung als kausale Abfolge von Aktion und Reaktion. Aber mit fortschreitender Spielpraxis gehen die Rhythmen des Bildes durch die sensomotorische Synchronisierung zunehmend in das (Körper-)Gedächtnis über – Aktionsbild und Wahrnehmungsbild nähern sich einander an. Es entsteht ein temporaler Gleichklang zwischen Körper und Bild.

Für die Wahrnehmung beim Spielen ergibt sich dadurch eine temporale Ästhetik der Bewegung, eine Kinästhetik.17 Denn die komplementäre Bewegung von Körper und Bild hält bestimmte „ästhetische Überschreitungen“18 bereit, die sich von einer bloßen rhythmischen Einübungspraxis unterscheiden. “Vielmehr sind der Rhythmus und die Synchronisierung auch ästhetische Kategorien, die es nahelegen, Praxen des Videospielens in bestimmten Fällen in Analogie zu musikalisch-tänzerischen Handlungs- und Wahrnehmungsweisen zu begreifen”.19 Die kinetischen Systeme im Danmaku lassen sich in dieser Hinsicht mit einem musikalischen Arrangement vergleichen, das man während des Spielens zugleich mitkomponiert. Dieses Arrangement trägt zur Etablierung eines Flow-Erlebens oder „synästhetischen Rauschzustands“20 bei – ein Zustand, den man nicht mehr als kausale Abfolge von Aktion und Reaktion empfindet.

Fallbeispiel: Gleichklang & Rausch in Ikaruga

Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus
Da das Schiff bei Ikaruga hier eine helle Polung angenommen hat, sind die dunklen Geschosse ‚places to avoid‘. (Bildquelle: hardcoregaming101.net)

Ein herausragendes Beispiel für ein solches musikalisch-tänzerisches Erleben bietet das Danmaku Ikaruga. Denn Ikaruga reflektiert diese besondere Qualität von Bullet Hell SHMUPs und überträgt sie bewusst auf das Spieldesign. Dies tut es, indem es Bezüge zum Buddhismus herstellt. So spiegelt das steuerbare Flugschiff das Yin und Yang wider – die Bipolarität der menschlichen Seele. Spieltechnisch bedeutet dies, dass man beliebig zwischen zwei Polaritäten wechseln kann. Dadurch leuchten das steuerbare Schiff und seine Schüsse entweder dunkel oder hell. Gleiches gilt für die Gegner und ihre Schüsse, auf deren Polarität man jedoch keinen Einfluss hat. Auf diese Weise ergibt sich eine einfache, aber spannungsvolle Gameplay-Mechanik: Während feindliches Feuer der jeweils anderen Polung dem Schiff Schaden zufügt, ist man durch Schüsse gleicher Polung nicht verwundbar. Zudem erzielt man bei Gegnern anderer Polung doppelten Schaden. Man muss sich also ständig entscheiden zwischen Unverwundbarkeit oder mehr Angriffskraft. Der Clou: Den nötigen Impuls für diese Entscheidung liefern die sich ständig abwechselnden Projektilmuster unterschiedlicher Polung.

Dadurch, dass man aufgrund der sich abwechselnden Muster aus Geschossen ständig zwischen den zwei Polaritäten changiert, ergibt sich ein mitkomponiertes Wechselspiel aus ‚places to be‘ und ‚places to avoid‘. Dieses erreicht seinen jeweiligen Höhepunkt bei den Boss-Kämpfen, die sich aus mehreren kinetischen Systemen mit je anderer Polung zusammensetzen. Auf diese Weise gerät man regelrecht in eine Art ‚Tanz‘ mit der kinetischen Konfiguration des Spiels um die kinetische Capacity des steuerbaren Flugkörpers. Spielt man Ikaruga eine Weile, so entsteht ein Wahrnehmungsraum, der die eigene Bewegung mit den Bewegungen des Bildes auf einen temporalen Gleichklang führt. Wahrnehmungsbild und Aktionsbild verdichten sich und finden ihre Entsprechung in einer hybriden Subjektivität aus Körper und Bild. Dazu trägt die multisensorische Erfahrung bei, die Ikaruga nicht nur über die Kinetik des Bildes, sondern auch durch seine Musik und Soundeffekte bietet. Sphärische Klänge und flüsternde Stimmen treffen hier auf schrille Schuss- und Explosionsgeräusche. Mehr und mehr spielt man sich in einen rauschähnlichen Zustand, in dem die eigenen Bewegungen mit den Bewegungen im Spiel verschmelzen.

Empfindung von Dauer: Die Öffnung zum Zeitbild

In vielen zeitgenössischen Danmakus und insbesondere in den späteren Spielen von Cave füllen die kinetischen Systeme aus Projektilen das Bild zeitweise so intensiv, dass sie die volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Mit zunehmender Progression und vor allem während der Boss-Kämpfe in den hinteren Leveln kapseln Konstellationen engmaschig sequenzierender Geschosse den steuerbaren Flugkörper in sich ein. Dadurch reduzieren sie seine kinetische Capacity stark. Man ist dann kaum oder nicht mehr in der Lage auf den Beschuss zu reagieren und seinen Flugkörper zu bewegen, da man sonst Schaden nehmen würde. Durch die gehemmte Bewegung fühlt man plötzlich den Bewegungsdrang des eigenen Körpers. Das Affektbild nimmt das Intervall zwischen Aktion und Reaktion des Bewegungsbildes in Beschlag. Die gehemmte Bewegung richtet sich nach innen und es entsteht eine Situation innerer Angespanntheit.21

Bullet Hell als Kunst: Die Kinästhetik des Danmakus
Im höchsten Schwierigkeitsgrad nehmen Projektile in Mushihimesama fast das gesamte Bild ein. (Bildquelle: hardcoregaming101.net)

Diese Momente, in denen sich das Bild zu Mustern gegnerischer Projektilsequenzen verdichtet, lassen den Raum nicht mehr als verfügbaren Aktionsraum erscheinen. Dadurch, dass die eigene Bewegung gehemmt ist, ist auch die Synchronisierung zwischen Körper und Bild unterbrochen. Auf das Affektbild folgt jetzt ein „Riß des sensomotorischen Bandes“22 des Bewegungsbildes. Die „normale Bewegung“ – die empfangene Bewegung durch das Wahrnehmungsbild und die ausgeführte Bewegung durch das Aktionsbild – geht in eine „anormale oder abweichende Bewegung“23 über. Das zeitliche Intervall dehnt sich aus, man nimmt den dargestellten Raum im Spiel nun in seiner eigenen Dauer wahr.24

Während die Zeit im Bewegungsbild immer nur indirekt über die Abfolge der Bilder in ihrer Gegenwart präsent war – im aktionsorientierten Spiel als Echtzeit durch die sensomotorische Synchronisierung – öffnet sich das Bild nun in seiner abweichenden Bewegung für die direkte Wahrnehmung von Zeit und bereitet damit einen neuen Bildtyp vor, das Zeitbild. Das Zeitbild beschreibt eine Wahrnehmungsweise, bei der man die Zeit in ihrer Dauer erlebt, als “strikte Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit der Vergangenheit”.25

Wenn die eigene Bewegung gehemmt ist, bricht die Synchronisierung zwischen Körper und Bild ab. Man nimmt den Raum im Spiel nun in seiner eigenen Dauer wahr.

Das Danmaku unterstützt diese Empfindung der Dauer oft noch zusätzlich durch das Einbrechen der Bildrate. Zwar können heutige Prozessoren 2D-Spiele wie SHMUPs ohne Einbußen der Spielgeschwindigkeit darstellen. Dennoch kommt es vor allem bei Portierungen oder lizensierter Emulationen älterer Danmakus auf aktuellen Systemen vor, dass die Bildrate in den Momenten starken Beschusses trotzdem einbricht – was auf eine bewusste Entscheidung im Game Design schließen lässt. Die Bewegung erscheint dann im Verhältnis zur Realzeit als gedehnt und man richtet die Aufmerksamkeit stärker auf die sich bewegenden Objekte im Spiel.

Reizüberflutung & Verwirrung: Das Danmaku als optisch-kinetische Kunst

In den Momenten massiven Kugelfeuers kündigt sich das Zeitbild in „reinen optischen und akustischen Situationen“ an, die „keine Fortsetzung mehr in Aktion und Reaktion [finden], wie es den Erfordernissen des Bewegungs-Bildes entspräche“.26 In diesen Situationen hat „der Sehende den Akteur ersetzt“.27 Rein audiovisuelle Phänomene, die „Opto- und Sonozeichen“28 – also die akustischen und visuellen Details eines Spiels – rücken dann ins Zentrum der Wahrnehmung. Die Sonozeichen nehmen im Danmaku in der Regel eine eher untergeordnete Rolle ein. Sie setzen sich aus Hintergrundmusik und Soundeffekten zusammen. Der entscheidende Impuls geht von den Optozeichen aus: Die kinetischen Muster der gegnerischen Geschosse prägen die optischen Situationen des Danmakus.

“Im Danmaku bilden kugel- oder pfeilförmige Geschosse die atomaren Einheiten von pulsierenden, vielfarbigen Gittern und Arabesken. Manchmal manifestieren sich diese Muster als bildschirmfüllende Kreise mit gleich großen Abständen zwischen den Radien oder Speichen, oder sie rollen in Form von wellenförmigen Ranken über den gesamten Bildschirm, oder sie regnen wie bunte Konfetti-Luftschlangen herab. Sie verbinden sich zu einzelnen Strängen bedrohlicher Netze oder drehen sich wild in Form von Doppelspiralen.”29

Thomas Bey & William Bailey: Das Danmaku als New Optical Art.

Solche Kompositionen aus hunderten von Optozeichen produzieren in ihrer Verdichtung eine visuelle Reizüberflutung. Die Kinästhetik des Danmakus lässt sich damit auch als eine “Ästhetisierung der Verwirrung”30 beschreiben, die den Entzug von Übersicht und die Irritation der räumlichen Orientierung zum Ziel hat. Es liegt daher nahe, eine Parallele zur optischen Kunst, auch Op-Art, der 1960er Jahre zu ziehen, die durch präzise abstrakte Formmuster und geometrische Farbfiguren irritierende optische Effekte erzeugt. So schreibt die Kunsthistorikerin Karina Türr über Op-Art: „Es ist […] genau das, was die Idee dieser Kunst ausmacht: eine ‚Bombardierung der optischen Nerven’“.31 Wie die bildenden Werke der Op-Art, so greifen auch Danmakus die Sehnerven an. “Wenn es eine ‚masochistische‘ Komponente bei diesen Spielen gibt, dann ist es die bewusste Überlastung der Sehorgane”.32

Im Unterschied zum Danmaku zeigen die flächigen Darstellungen der Op-Art aber statische, also sich nicht bewegende Formen. Ihre Bewegung entsteht „nur durch das Springen des Auges angesichts widersprüchlicher Lesarten innerhalb der strukturellen Organisation“.33 Doch im Danmaku entfaltet sich das Zusammenspiel der Optozeichen erst aus der Kinetik des Spiels. Die Kinästhetik des Danmakus markiert in dieser Hinsicht also den ‘gemeinsamen Nenner’ zwischen der optischen und der kinetischen Kunst. “Obwohl die Kinetik nur teilweise auf Mechanismen der op art zurückgreift”, so der Kunsthistoriker Werner Spies, “sind beide Bereiche nicht voneinander zu trennen. Ihr gemeinsamer Nenner liegt in der Definition des Künstlerischen […]: sie ersetzt das System Sehen – Lesen […] durch eines, in dem die Identität zwischen Perzeption und Apperzeption anvisiert wird”.34

Je konzentrierter und variantenreicher die gegnerischen Geschosse sequenzieren, desto mehr verlieren die Optozeichen ihre Bedeutung als Zeichen im eigentlichen Sinne. “Jede Möglichkeit der Fixierung”, so formuliert es Türr, “des […] geordneten Sehens und der Wahrnehmung von Gestalt wird also verhindert; stets kann man nur wissen, nicht aber sehen, wie das Bild in allen Teilen beschaffen ist”.35 Da sie zunehmend das geordnete Sehen verhindern, spielt die Funktion der Optozeichen im Spiel – als gegnerisches Feuer, das Schaden anrichtet – immer weniger eine Rolle. Stattdessen führt die Reizüberflutung zu einer Wahrnehmungsweise, die sich nochmals in Anschluss an Deleuze als Traumbild bezeichnen lässt.

Entfaltung der Kinästhetik des Danmakus: Wenn die Bewegung die Wahrnehmung dominiert

Das Traumbild ist bei Deleuze als Interpretation von Bergsons Traumtheorie angelegt, der zufolge man im Schlaf seine Empfindungen von Außen- und Innenwelt miteinander in Beziehung bringt. Während des Träumens befindet man sich demnach in einem diffusen Zustand von unzähligen gegenwärtigen, inneren, wie äußeren Empfindungen. Im Unterschied zum Wachzustand nimmt man also keine aktuellen, sondern einzig virtuelle Bilder wahr, die sich zudem ständig selbst aktualisieren.36 Das Traumbild ist ein „Werden, das sich im Prinzip bis ins Unendliche fortsetzen kann“,37 „ein großer Kreislauf, in dem jedes Bild das vorhergehende aktualisiert und sich selbst in dem nachfolgenden aktualisiert“.38

Das gegnerische Feuer ist einem ständigen Werden ausgesetzt. Diese fortwährende Veränderung der optischen Situation ersetzt in ihrer Bewegung die eigene Bewegung.

Die aus unterschiedlichen Formen und Farben bestehenden Projektilmuster eines Bullet Hell SHMUPs, die sich ständig abwechseln, überlagern und ineinander übergehen, funktionieren nach dem Prinzip des Traumbildes: Die Bilder aktualisieren sich ständig selbst. Angelehnt an Türrs Beschreibung der Wirkungsweise von Op-Art, ließe sich sagen, dass man stets nur wissen, nicht aber sehen kann, wie das Bild in allen Teilen beschaffen ist. Das gegnerische Feuer der Danmakus ist einem ständigen Werden ausgesetzt. Diese fortwährende Veränderung der optischen Situation ersetzt in ihrer Bewegung die eigene Bewegung, da das Affektbild die sensomotorische Verkettung mit dem Bild des Spiels zuvor unterbrochen hat.

„Aber nicht mehr die Figuren [die Spieler:innen] reagieren auf die optisch-akustischen Situationen, sondern die Bewegung der Welt tritt an die Stelle der zurücktretenden Bewegung der Figur. […] Die Welt nimmt die Bewegung auf sich, welche das Subjekt nicht oder nicht mehr vollziehen kann. Es handelt sich um eine virtuelle Bewegung, die sich jedoch aktualisiert, indem sich der Raum insgesamt ausdehnt und die Zeit sich streckt.“39

Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2.

Während sich also die Wahrnehmung der optischen Situation durch das Erleben von Dauer über die Öffnung zum Zeitbild intensiviert, leitet die Reizüberflutung durch die Optozeichen das Traumbild ein, das nun anstelle der Spieler:innen die Bewegung vollzieht und somit die Wahrnehmung in ihrer Zeitlichkeit bestimmt. Es sind diese Momente, in denen sich die Kinästhetik des Danmakus voll entfaltet – und in denen sich das Genre als optisch-kinetische Kunst verstehen lässt.


Fußnoten:

  1. Exemplarisch seien hier die späteren Spiele der Firma Psikyo genannt, vor allem die Strikers 1945-Reihe, die neben den SHMUPs von Cave zur Weiterentwicklung des Genres in den 90er Jahren beigetragen haben. Unter Fans gibt es daher eine Debatte darüber, welches der beiden einflussreichen japanischen Studios die besseren Spiele geschaffen hat.
  2. Um möglichst nah an eine Spielerfahrung zu gelangen, die der Bedienung von Arcade-Automaten ähnelt, verwenden Enthusiast:innen meist in Eigenbau konstruierte Setups mit Monitoren im Hochformat und Arcade Sticks. Ein Arcade Stick ist ein Controller, der das Bedienpult eines Automaten nachahmt und oft aus den gleichen Komponenten besteht, die auch in Automaten verbaut sind. Eine Besonderheit stellt gegenwärtig das Flip Grip für die Nintendo Switch dar. Dabei handelt sich um eine Halterung aus Plastik, die die Bedienung der Konsole als Handheld im Hochformat ermöglicht – und sich damit besonders für das Spielen von SHMUPs im TATE Mode eignet.
  3. vgl. Rumbke 2009, 207 f.
  4. ebd., 220
  5. vgl. ebd. 216 ff.
  6. vgl. ebd. 212 ff.
  7. Wiemer 2014, 212
  8. vgl. ebd. 183 ff.
  9. vgl. Deleuze 1990; vgl. ebd. 1997
  10. Wiemer 2017, 138
  11. Deleuze 1997, 89
  12. vgl. ebd., 91 ff.
  13. ebd., 96
  14. Ich habe Deleuze’ Bildtaxonomie zum Zwecke der Analyse im Rahmen dieses Artikels stark vereinfacht ausgelegt. So spricht Deleuze etwa anstelle von ‚Wahrnehmungsformen‘ in der deutschen Übersetzung seines Textes von “Metamorphosen des Bewegungsbildes” (ebd., 94), die innerhalb eines “Materiestroms” (ebd., 87) ‘materielle Aspekte der Subjektivität’ kennzeichnen. Der Materiestrom ist hier als ontologische Ebene gedacht, als „Ebene der Immanenz“ (ebd., 88), auf der das wahrnehmende Subjekt ebenso wie die wahrgenommenen Dinge als Bewegungsbilder vorkommen.
  15. Wiemer 2017, 140 f.; Wiemer beruft sich hierbei auf die Videophilosophie des Soziologen und Philosophen Maurizio Lazzarato und spricht in diesem Zusammenhang von Zeitkristallisationsmaschinen (vgl. ebd., 136).
  16. ebd., 148
  17. vgl. ebd. ff.
  18. ebd., 214
  19. ebd., f.
  20. ebd., 211
  21. vgl. ebd., 222
  22. Deleuze 1991, 347
  23. ebd., 55
  24. vgl. Wiemer 2014, 217
  25. Deleuze 1991, 350
  26. ebd., 348
  27. ebd.
  28. ebd.
  29. Bey/Bailey 2013; eigene Übersetzung
  30. ebd.; eigene Übersetzung
  31. Türr 1986, 77
  32. Bey/Bailey 2013; eigene Übersetzung
  33. Türr 1986, 93
  34. Spieß 2008, 356
  35. Türr 1986, 63
  36. vgl. Deleuze 1991, 80 ff.
  37. ebd., 81
  38. ebd., 83
  39. Deleuze 1991, 83 f.

Literatur:

Ludographie:

  • Batsugun (1993 Toaplan)
  • Danmaku Unlimited (2011 Doragon Entertainment)
  • Danmaku Unlimted 3 (2017 Doragon Entertainment)
  • DoDonPachi (1997 Cave/Atlus)
  • DoDonPachi Resurrection (2011 Cave/Rising Star Games)
  • DonPachi (1995 Cave/Atlus)
  • Ghost Blade HD (2017 Hucast Games)
  • Ikaruga (2001 Treasure)
  • Mushihimesama (2004 Cave/AMI)
  • Strikers 1945 (1995 Psikyo)
  • Touhou Kōryūdō ~ Unconnected Marketeers (2021 Team Shanghai Alice)

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