The less you have the more you play: Minimalismus im Gaming

Klein, flach, gelb, mit einer Kurbel, zwei Buttons und einem farblosen Display: Das Handheld Playdate des Herstellers Panic ist ein aktuelles Beispiel für Minimalismus im Gaming. Durch die Reduzierung seiner technischen Ein- und Ausgabemöglichkeiten fordert es ganz bewusst die Kreativität von Entwickler:innen heraus. Ebenso bewusst ist die Beschränkung auf die Anzahl kuratierter Spiele, die im ersten Jahr seiner Veröffentlichung zugänglich sind. Reduzierung und Beschränkung, sowohl bei der Hardware als auch der Software – damit berührt das Playdate bereits verschiedene Facetten des Minimalismus im Gaming.

Wie der Minimalismus allgemein, so kommt Minimalismus im Gaming in diversen Praktiken, Ästhetiken und Motivationen zum Ausdruck. Je nach Kontext handelt es sich um einen bestimmten Lebensstil, eine soziale Bewegung oder auch eine Form von Ästhetik.1 In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, wie stark Minimalismus im Gaming in diesen jeweiligen Ausprägungen verbreitet ist und einen Blick darauf werfen, was minimalistische Spiele eigentlich zu minimalistischen Spielen macht.

Ansammeln, Horten und zur Schau stellen

Minimalismus als Lebensstil und als soziale Bewegung bildet eine Nische im Diskurs über digitale Spiele. Zu dieser Nische zählen zum Beispiel diverse Threads unter dem Subreddit ‚minimalism‘. Dort geht es zumeist um die Frage, wie sich das Sammeln von alten Konsolen und Spielen oder der Kauf neuester Hardware mit einer minimalistischen Lebensweise verträgt. Ein Kleinod ist der selten aktualisierte Blog theminimalistgamer.com, der sich speziell um das Thema Minimalismus im Gaming dreht. Joel, der Autor, schreibt über seinen persönlichen Weg, das Spielen mit seiner minimalistischen Lebensweise zu vereinen und übt Kritik an der Konsumkultur rund um Games.

Schon der häufig verwendete Begriff ‚Pile of Shame‘ deutet an, dass es zumindest ein geteiltes Bewusstsein unter vielen Spieler:innen dafür gibt, dass der ungezügelte Kauf von digitalen Spielen ein gewisses Problem darstellt. Die Bezeichnung bringt ironisch-reflektiert zum Ausdruck, dass man zu viele Spiele besitzt, als man sie jemals wirklich alle spielen könnte. „Es ist die Menge der Dinge und die Unmöglichkeit ihrer funktionalen Ordnung, die das Gegenbild zur minimalistischen Lebensweise bilden.“2

Schon der häufig verwendete Begriff ‚Pile of Shame‘ deutet an, dass der ungezügelte Kauf von Spielen ein gewisses Problem darstellt.

Das Ansammeln von gekauften Spielen, insbesondere in den digitalen Bibliotheken der verschiedenen Plattformen, ist ein weit verbreitetes und viel diskutiertes Phänomen.3 Regelmäßige Sonderangebote oder Abo-Services erlauben den kostengünstigen Konsum von Spielen, die sich in einer schier unüberschaubar gewordenen Auswahl darbieten. Das Technik-Magazin Arch Technica fand 2014 heraus, dass auf der Plattform Steam etwa 37 Prozent aller gekauften Spiele ungespielt bleiben. Bei einer Umfrage des Gaming-Magazins Kotaku aus demselben Jahr gaben 30 Prozent der befragten Spieler:innen an, dass sie 80 Prozent ihrer Spiele aufgrund eines Sonderangebots erworben haben, wobei ihre Pile of Shame im Schnitt 100 ungespielte Spiele enthielt.

Parallel zu diesem Überangebot an Software tut sich eine mittlerweile gewaltige Produktwelt von Gaming-Hardware auf – von allen nur erdenklichen Zusatz- und Peripherie-Produkten, über Controller und Eingabegeräten in unterschiedlichen Formen und Farben, Merchandise aller Art, bis zu den vielen Neuauflagen von Retro-Konsolen. Demgegenüber entsteht ein Gegentrend, der durch das Angebot an ‚minimalistischer Hardware‘ zum Ausdruck kommt: Minimalistisch designte Mäuse, Tastaturen und Schreibtische begegnen dem ausufernden Design von Gaming-Geräten wieder mit einer bewussten Schlichtheit. In diesem Zusammenhang führen die Artikel von Herstellern und Ratgeberseiten für Gaming-Zubehör auch minimalistische Raumkonzepte für das ‚perfekte Gaming-Zimmer‘ ins Feld.4

Die Hintergründe bekannter Influencer:innen auf YouTube oder Twitch zeigen oft komplett gefüllte Regale mit Spieleverpackungen, Merchandise, Konsolen und anderer Hardware (Bildquelle: BeatEmUps)

„Minimalismus als Lebensform betrifft in seiner materiellen Dimension zunächst den Alltag und den Haushalt“.5 So rekurrieren die Artikel auf das Aufräumen und Reduzieren, um aus dem Zimmer einen Ort zu machen, der allein dem Zweck des Spielens dient. Minimalismus erscheint hier selbst als Konsumgut oder zumindest als Schlagwort für den Verkauf von Konsumgütern in Form von minimalistischer Gaming-Hardware. Am Beispiel dieser Einrichtungstipps für minimalistische Gaming-Zimmer zeichnet sich ein gewisser Widerspruch ab, der den Minimalismus als Lebensstil und als soziale Bewegung im Allgemeinen begleitet. „Die Bewegung“, so die Kritik, „wurde (…) durch Vermittlungsformate, Medien, aber auch Designgegenstände selbst kommodifiziert und konsumierbar gemacht“.6

Aussortieren, Aufräumen und Einrichten

Diese Kommodifizierung wiederum durchdringt auch Spiele, bei denen es um das Einrichten und Dekorieren geht. Ein Beispiel hierfür ist die Erweiterung ‚Tiny Living‘ der Alltagssimulation Die Sims 4 (2014), die an den minimalistischen Trend der Tiny Houses anknüpft. Auf möglichst engem Raum gilt es den Alltag der eigenen Spielfigur (genannt ‚Sim‘) zu managen und dafür die eigens für die Erweiterung hinzugekommenen Möbelstücke in der Spielwährung zu erwerben. Auch in den Animal Crossing-Spielen – eine Reihe an Lebenssimulationen, in denen man eine menschliche Figur verkörpert, die in einem Dorf voller anthropomorpher Tiere lebt – lassen sich Möbel erwerben oder herstellen, die eine minimalistische Einrichtung nahelegen. Hierzu zählen etwa die explizit als ‚Minimalismus‘ bezeichnete Möbelserie in Animal Crossing: New Leaf (2013) und diverse Möbelserien in Animal Crossing: New Horizon (2020), die jeweils aus Tischen, Stühlen und Schränken in einem schlichten und eleganten Design bestehen.

Eine Spielerin von Animal Crossing: New Leaf sortiert Einrichtungsgegenstände aus und bezieht sich dabei auf den Minimalismus

Viele der durch Fans dieser Spiele im Netz veröffentlichten Screenshots zeigen aufgeräumte und stimmige Räume, wobei insbesondere die Bilder der Animal Crossing-Serie durch die im Spiel erhältlichen Einrichtungsgegenstände eine gewisse japanische Raumästhetik aufweisen. Denn auch die „Räume, auf die sich Minimalist:innen beziehen, (…) [sind] einfach und schlicht in wenigen Farben und Materialien gehalten und finden in japanischen Wohn- und Teeräumen ein historisches Vorbild“.7 Damit knüpfen die Aufnahmen aus den Spielen des japanischen Entwicklers Nintendo oft direkt oder indirekt an Raumkonzepte im Minimalismus an, wie sie die in der westlichen Welt sehr einflussreiche japanische Aufräumspezialistin Marie Kondō vermittelt – die durch den Verkauf ihrer Bücher und Einrichtungsgegenstände selbst zu einer Art Symbolfigur für die Kommodifizierung des Minimalismus geworden ist.8

Doch minimalistische Praktiken diffundieren nicht nur in bestimmte Spiele. Umgekehrt liefert auch das Spiel eine prägende Metapher für die Praxis des konsequenten Aussortierens und Entsorgens. Unter dem Hashtag #minsgame finden sich in den sozialen Netzwerken allerlei Beiträge zum ‚Minimalismus-Spiel‘. Hierbei geht es darum, zumeist innerhalb eines Monats täglich ein Ding mehr auszusortieren oder zu entsorgen. Initiiert haben das Spiel die beiden US-Amerikaner Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus, die wohl bekanntesten Gesichter, die den Minimalismus als Lebensstil und soziale Bewegung repräsentieren. Als The Minimalists treten sie in verschiedenen Medienformaten auf, unter anderem in dem für einen Emmy nominierten Netflix-Dokumentarfilm The Minimalists: Less Is Now. Auf ihrem Blog und einem begleitenden YouTube-Video rufen sie zu einem 30-Tage-Minimalismus-Spiel auf.

Kriterien für minimalistische Spiele

Den größten Einfluss auf digitale Spiele übt Minimalismus jedoch als eine Form von Ästhetik aus. Als eine Strömung in der Gestaltung wirkte er neben den Bereichen Kunst, Architektur, Kleidung oder Musik auch auf das Design. Vorbilder finden sich zum Beispiel in den Entwürfen des Bauhauses und seiner Nachfolgeinstitutionen, im skandinavisches Design sowie in der bereits angesprochenen japanischen Ästhetik. Am deutlichsten kam er durch die Minimal Art in den 1970er Jahren zum Ausdruck, die man im Deutschen auch synonym als ‚Minimalismus‘ bezeichnet.9 Aus kunsthistorischer Perspektive charakterisieren die Minimal Art mindestens drei Merkmale, „sich erstens in Kunstwerken auf einfache geometrische Formen zurückbesinnen […], Werke zweitens in Serie herzustellen und dabei drittens auf industrielles Material sowie industrielle Fertigungstechniken zurückzugreifen“.10 Diese Maxime lassen sich heute in vielen gestalterischen Disziplinen nachvollziehen, die sich in ihrer dekorationslosen, funktionalistischen Ausrichtung gegenseitig beeinflussen.11

Minimalistische Gestaltung besteht darin, alles Unnötige zu entfernen und alles Notwendige zu perfektionieren.

Digitale Spiele (und Software im Allgemeinen) sind durch diese Merkmale jedoch nur bedingt als ‚minimalistisch‘ charakterisierbar. Denn jedes Spiel, völlig unabhängig davon, wie es sich uns audiovisuell präsentiert und spielt, lässt sich prinzipiell ‚in Serie‘ unendlich reproduzieren. Ebenso ist jedes Spiel durch bestimmte Fertigungstechniken standardisiert, etwa durch die Verwendung einer Game Engine und anderer Programme zur Grafik- und Soundbearbeitung. Was bleibt, ist das Klare und Geordnete als Kennzeichen minimalistischer Gestaltung. Doch reicht eine klare und geordnete Präsentation schon aus, um von minimalistischen Spielen sprechen zu können? Oder bedarf es noch weiterer Kriterien?

Um auf diese Fragen eine Antwort zu geben, schlagen die Spieleentwickler Andy Nealen, Adam Saltsman und Eddy Boxerman eine Definition für minimalistische Spiele vor. Dabei grenzen sie zunächst ihre Vorstellung von Minimalist Game Design als ein allgemeines Designprinzip von der Minimal Art ab, die sie – im Kontext ihrer Zeit – als eine polemische und normative Bewegung verstehen. Minimal Game Design hingegen „ist ein alternativer Gestaltungsprozess. Es soll beschreibend sein, nicht vorschreibend“.12 Minimalistische Gestaltung besteht für sie darin, „alle unnötigen Komponenten zu entfernen, so dass nur die Teile übrig bleiben, die man wirklich braucht“ und dann diese übriggebliebenen, „notwendigen Elemente hervorzuheben und zu perfektionieren“.13

Aus dieser Perspektive entwickeln sie schließlich bestimmte Kriterien, nach denen man ein Spiel als ‚minimalistisch‘ bezeichnen kann.14 So haben minimalistische Spiele

  • nur wenige Regeln und Mechaniken und möglicherweise nur eine einzige Kernmechanik,15
  • erzeugen durch die enge Kopplung weniger Systemelemente (z.B. Trefferpunkte, verbleibende Zeit, Größe, usw.) ein tiefgreifendes Gameplay mit potentiell vielen Entscheidungsmöglichkeiten,
  • verfügen über eine einfache, leicht zu handhabende Steuerung, die für eine Vielzahl von Eingabegeräten geeignet ist,
  • sind systemisch und visuell eher abstrakt, was zu einer niedrig wahrnehmbaren Komplexität führt, trotz eines möglicherweise komplexen Spielsystems,
  • und sie erzählen nie eine konkrete Geschichte, sondern beinhalten immer ein Thema, welches sich aus der Ästhetik, den Regeln und der Mechanik ergibt.

Um ihre Definition zu untermauern, nennen Nealen, Saltsman und Boxerman diverse Beispiele, darunter ihre eigenen Spiele Canabalt (2009) und Osmos (2009).16

Minimalistisches Game Design bei Canabalt und Osmos

Canabalt ist ein sogenannter Endless Runner. In diesem Genre steuert man eine Figur, die automatisch in eine bestimmte Richtung läuft – in Canabalt eine Person, die sich offensichtlich auf der Flucht befindet, auch wenn die Ursache der Flucht nicht thematisiert wird. Das Spiel hat eine simple Kernmechanik und eine einfache Steuerung, die nur drei Möglichkeiten der Interaktion beinhaltet: ‚Kurzer Sprung‘, ‚hoher Sprung‘ oder auch einfach ’nichts tun‘. Die geringe Komplexität der Mechanik wirkt sich auch auf die Spieltiefe aus. Diese ergibt sich allein aus der Dringlichkeit, die durch die Laufgeschwindigkeit der Spielfigur und den ihr im Wege stehenden Hindernissen entsteht, sich in unterschiedlichen Zeitintervallen für eine der drei Interaktionsmöglichkeiten zu entscheiden. Auch visuell präsentiert sich Canabalt als ein minimalistisches Spiel. Zum einen ist es in einer einfachen, eher abstrakten Retro-Pixel-Grafik, gehalten. Zum anderen verzichtet es auf Farben, sondern beschränkt sich auf wenige Grautöne.

Canabalt (Bildquelle: store.steampowered.com)
Osmos (Bildquelle: store.steampowered.com)

Auch das Geschicklichkeitsspiel Osmos ist visuell und steuerungstechnisch einfach gehalten. Thematisch geht es um Zellen in einem Medium. Man steuert die einzige blaue Zelle, während die anderen, rot gefärbten Zellen Gegner darstellen. Die wichtigste Regel im Spiel ist es, dass große Zellen kleinere Zellen bei Berührung absorbieren, wodurch sie noch größer werden. Das Problem: Bewegt man die eigene Zelle durch das Medium, verliert diese an Masse. Die Bewegung der eigenen Zelle muss also immer abgestimmt sein auf die Größe der umliegenden Zellen, um schädliche Berührungen zu vermeiden und wachstumsfördernde Berührungen zu erzielen. Was das Spiel neben seiner einfachen visuellen Präsentation und der simplen Kernmechanik also als minimalistisch kennzeichnet, ist vor allem der Fokus auf eine einzige Variable, die zugleich andere Spielelemente koppelt: Die Größe der Zelle, an der sich sowohl die Lebensenergie als auch die Bewegungsreichweite ablesen lässt.

Minimalistische Spiele sind kalte Spiele

Die Definition nach Nealen, Saltsman und Boxerman lässt auch einen weiteren Blickwinkel zu, von dem aus man minimalistische Spiele betrachten kann. Durch ihre Reduktion auf die notwendigen Elemente müssen wir als Spieler:innen ‚die Lücken füllen‘:

„Minimalistische Spielentwickler:innen wählen nur die spezifischen Elemente aus, die notwendig sind, um die wichtigsten Aspekte ihrer Idee zu vermitteln, und überlassen es den Spieler:innen, den Rest des Szenarios mit ihrer Vorstellungskraft auszufüllen, um eine diegetisch detaillierte und reichhaltige Spielumgebung zu schaffen, die kein Team von Künstler:innen erfordert.“17

Andy Nealen, Adam Saltsman & Eddy Boxerman: Towards Minimalist Game Design.

Minimalistische Spiele sind in dieser Hinsicht eher kalte Spiele – im Sinne der Medientheorie, die der kanadische Philosoph Marshall McLuhan in seinem einflussreichen Werk Understanding Media: The Extensions of Man von 1964 entwirft. „Ein heißes Medium“, so McLuhan, „schließt aus, ein kaltes Medium schließt ein“.18 Medien, die einen oder mehrerer unserer Sinne mit einer Fülle an Informationen versorgen, bezeichnet McLuhan als ‚heiße Medien‘. Sind die Informationen hingegen nur spärlich vorhanden, sodass wir die fehlenden Informationen mit unserer Fantasie ergänzen müssen, handelt es sich um ‚kalte Medien‘.

‚Heiß‘ und ‚kalt‘ sind jedoch keine starren, sondern fließende Kategorien, die sich erst innerhalb von bestimmten Kontexten herausbilden können. Dies liegt daran, weil der Inhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist. Als solches kann es von der Wirkung des eigentlichen Mediums ablenken. Auf der anderen Seite formen die spezifischen Eigenschaften des jeweiligen Mediums die Rezeption immer mit. Mit der Phrase ‚das Medium ist die Botschaft‘ macht McLuhan darauf aufmerksam, dass die eigentliche Wirkmacht von Medien nicht von ihren Inhalten, sondern von ihnen selbst ausgeht.

Der Kultur- und Medienwissenschaftler Christian Huberts überträgt die Medientheorie von McLuhan auf digitale Spiele. „Ob ein Computerspiel nun heiß oder kalt ist“, so Huberts, „hängt also maßgeblich davon ab, welche Medien es beinhaltet und in welcher Intensität.“19 Jedes Spiel konfiguriert heiße und kalte Medien neu und betont dabei mal mehr die eine oder die andere Seite. Inhalte, die aus eher heißen Medien stammen, können die „kalten elektronischen Prozesse eines Computers“20 aufheizen. Die Linearität eines Romans oder Films fordert unsere Vorstellungskraft weniger heraus, als die Konfigurationen digitaler Prozesse, die den Entscheidungsmöglichkeiten in einem Spiel zugrunde liegen.

„Text-Adventure und interaktivem Film ist gemeinsam, dass sie sich durch ihren Inhalt weit vom eigentlichen Kern des Mediums Computerspiel entfernt haben. Die Partizipation des Rezipienten beschränkt sich auf das Umblättern einer Seite oder das Auslösen des nächsten Filmabschnittes. Die heißen Eigenschaften des Buches und des Films haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Inhalt erhitzt, dominiert und überblendet das Medium.“21

Christian Huberts: Raumtemperatur. Marshall McLuhans Kategorien »heiß« und »kalt« im Computerspiel.

Am Negativbeispiel des Text-Adventures wird der Zusammenhang zwischen kalten Medien und minimalistischen Spielen besonders deutlich. Denn ein Text-Adventure mag zunächst minimalistisch erscheinen, da die grafische Darstellung extrem reduziert ist. Doch schon die Bedienung durch Eingabe von Wörtern über die Tastatur unterstreicht die Komplexität des Genres. Denn um mit der Spielwelt zu interagieren, muss man für gewöhnlich die passenden Begriffe zunächst aus dem Kontext des Spiels erschließen und in der richtigen Reihenfolge in eine Befehlskette integrieren – ein wesentlicher Aufwand etwa im Vergleich zum Drücken eines einzelnen Buttons, um eine Aktion auszuführen. Hinzu kommt die Verstrickung auf die zu erlebende Geschichte, oft erzählt und ausgeschmückt mit einer belletristischen Vielfalt, die das Spiel aufheizt und im krassen Gegensatz zum minimalistischen Design steht.

Im Gegensatz dazu gibt es durchaus Beispiele für komplexe Spielsysteme, die man aber dennoch als sehr einfach wahrnimmt. Hierzu zählen viele auf den ersten Blick eher abstrakt und visuell relativ einfach zu lesende Geschicklichkeits- und Puzzle-Spiele. Sie stellen das Prozesshafte und Konfigurative digitaler Spiele in den Vordergrund, was sie zu eher kalten Spielen macht. Steuerungstechnisch bieten solche Spiele meist nur wenige Entscheidungsmöglichkeiten. Eines der vielen Beispiele, die Nealen, Saltsman und Boxerman hierzu anführen, ist das Puzzle-Spiel Drop7 (2009), das in jeder Spielrunde lediglich sieben maximal mögliche Aktionen erlaubt.22 Doch der überschaubaren Anzahl an Aktionen liegen kaum zu überblickende Entscheidungsbäume mit Kaskaden an Auswirkungen zugrunde. Diese komplexen Strukturen bleiben aber im Hintergrund. Erst mit der Zeit erschließt sich die systemische Komplexität hinter dem einfachen Spielprinzip, woraus sich die eigentliche Spieltiefe ergibt.

Minimalismus im Gaming: Einfach oder kompliziert?

Wie ich aufgezeigt habe, prägt der Minimalismus als gesellschaftliches und ästhetisches Phänomen auch die Kultur digitaler Spiele. Dies tut er allerdings in unterschiedlich starken Graden. Als Lebensstil und als soziale Bewegung spielt der Minimalismus im Gaming eine eher untergeordnete Rolle. Zwar gibt es vereinzelt Diskussionen und Beiträge über die Vereinbarkeit von Gaming als Hobby mit einer minimalistischen Lebensweise und Lebenshaltung. Doch die kritische Auseinandersetzung mit dem überbordenden Angebot an Games und Games-Hardware kommt nicht über die ironisch aufgeladene ‚Pile of Shame‘-Debatte hinaus. Stattdessen zeigt sich, dass digitale Spiele eher nur mehr ein weiteres Vehikel für die Kommodifizierung des Minimalismus bilden. Die minimalistische Praxis des Aufräumens und Aussortierens, die in unterschiedlichen Formen und Formaten über Protagonist:innen wie Marie Kondō bereits umfassend vermarktet wird, findet sich in Artikeln über ‚minimalistisches‘ Gaming-Zubehör wieder, das seinerseits gekauft und konsumiert werden will. Auch greifen Spiele, bei denen es um das Einrichten und Dekorieren von Räumen geht, eher ästhetische Konzepte aus dem Minimalismus auf.

Tatsächlich ist es vor allem die ästhetische Seite des Minimalismus, die den größten Einfluss auf digitale Spiele und deren Entwicklung ausübt. So haben minimalistische Ideen und Ansätze aus gestalterischen Disziplinen das Game Design stark beeinflusst. Minimalistisch designte Spiele – aber auch minimalistische Hardware-Konzepte, wie das Playdate – sind visuell einfach, folgen zumindest oberflächlich nur wenigen Regeln und lassen sich leicht bedienen. Man kann sie im Sinne von McLuhan als kalte Medien bezeichnen, da sie durch ihre Einfachheit unsere Fantasie und Kreativität anregen. Es ist diese bewusste Reduktion im Gameplay, die den Minimalismus im Gaming besonders charakterisiert.


Fußnoten:

  1. vgl. Derwanz 2022, 8 ff.
  2. ebd., 10
  3. Ein Blick auf die Ergebnisse der Suchanfrage zu ‚Pile of Shame‘ bei Google genügt, um einen Eindruck von der Relevanz des Themas zu bekommen.
  4. Siehe hierzu zum Beispiel die Artikel über die Einrichtung von Gaming-Zimmern auf gaming-tools.de, perfekt-zocken.de oder leetdesk.com.
  5. ebd., 9
  6. ebd., 15
  7. ebd., 15 f.
  8. Dass die eingebaute Konsumlogik in Animal Crossing: New Horizon aber auch zu einen digitalen ‚Maximalismus‘ führen kann, der das genaue Gegenteil von Marie Kondōs Ansatz darstellt, darauf macht der Autor Kyle Chayka in seinem Artikel ‘Animal Crossing’ vs Marie Kondo: Lockdown and the Minimalist Interior aufmerksam.
  9. vgl. ebd., 14 ff.
  10. Krezdorn zit. n. ebd., 17
  11. vgl. ebd., 17 ff.
  12. Nealen/Saltsman/Boxerman 2011, 2; eigene Übersetzung
  13. vgl. ebd.; eigene Übersetzung
  14. vgl. ebd., 1 ff., 4
  15. Nach Nealen/Saltsman/Boxerman definieren ‚Regeln‘ alle Zustandsänderungen im Spiel, wohingegen ‚Mechaniken‘ nur diejenigen Regeln darstellen, die über die Steuerung ausgelöst werden können (vgl. ebd., 3).
  16. vgl. ebd., 4 ff.
  17. ebd., 3
  18. zit. n. Huberts 2010, 19
  19. Huberts 2010, 21
  20. ebd., 25
  21. ebd., 22
  22. Nealen/Saltsman/Boxerman 2011, 5

Literatur:

Ludographie:

  • Animal Crossing: New Horizon (2020 Nintendo)
  • Animal Crossing: New Leaf (2013 Nintendo)
  • Canabalt (2009 Semi Secret Software)
  • Colossal Cave Adventure (1977 Crowther/Woods)
  • Die Sims 4 (2014 Maxis/Electronic Arts)
  • Drop7 (2009 Zynga)
  • Osmos (2009 Hemisphere Games)
  • Pong (1972 Atari)

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